Pragmatischer Fluch oder Segen? Die gespaltene Wahrnehmung der Automaten-Kultur

Ein neuer Trend zieht durch den Freistaat. In beinahe jeder Groß- wie Kleinstadt Bayerns befinden sich sogenannte Automatenläden – Kioske, deren Verkaufsraum kein Personal benötigt, sondern nur Automaten. Nicht alle freuen sich über das neue Angebot. Dabei gehören die Maschinen in anderen Ländern längst zum Alltag.

Artikel: Minh Anh, Daniel / Audiobeitrag: Sergey / Social Media und Video: Daniel, Viola

Um 20 Uhr ist Schluss: Bayerns strikte Einhaltung des Ladenschlussgesetzes hat zur Folge, dass Kundinnen und Kunden Alternativen suchen und benötigen. Sei es an Sonn-, Feiertagen oder einfach nach Ladenschluss – in Ausnahme- und Notfällen müssen im Freistaat Ausweichmöglichkeiten herhalten. Auch aus diesem Grund werden Alternativen wie Supermarkt-Filialen in Bahnhöfen überrannt. Die jüngst sich immer weiter ausbreitende Lösung des Problems heißt: Automatenkiosk. Die Trend-Kioske sind jedoch nicht nur beliebt. Hierzulande wird das Konzept von Städten wie auch ihren Bewohnerinnen und Bewohnern kritisch beäugt. 

Für manche lästig, für andere praktisch: Nicht nur in Regensburg scheiden sich die Geister an Automatenkiosken. 

Wie eine Stadt mit Automatenkiosken zu kämpfen hat 

Stephan Bergmann ist Altstadtkümmerer der Stadt Regensburg und berät Wirtschaftsbetriebe, Eigentümer sowie Makler in der Altstadt. Im Gespräch mit der Redaktion betont Bergmann, dass die sogenannten Automatenläden ein „Phänomen der Innenstädte“ seien. Besonders den Freistaat betreffe dies: „Es ist tatsächlich ein bayerisches Phänomen. In anderen Bundesländern ist die Situation wohl nicht so ausgeprägt, weil es dort eben nicht die strikten Schließzeiten im Einzelhandel gibt.“ Die Kioske siedeln sich demnach oft dort an, wo sich das Nachtpublikum befindet. Im Falle der Stadt Regensburg ist dies in der Altstadt. Angeboten würden hier nicht Dinge des täglichen Bedarfs, sondern eher Getränke und Snacks, unterstreicht Michael Bleckmann, Abteilungsleiter beim Amt für öffentliche Ordnung und Straßenverkehr der Stadt Regensburg. Dadurch seien die Läden klar zu unterscheiden von „digitalen Kleinstsupermärkten“, welche ein Vollsortiment verkaufen und eher eine Versorgungslücke schließen sollen. 

Mit ihrem Sortiment im Hinterkopf würden die Betreiber ihre Automatenläden klug und strategisch an den Wegen der Nachtschwärmer platzieren, sagt Bergmann. Die in der Regel „junge und erlebnisorientierte“ Zielgruppe benötige hauptsächlich Produkte außerhalb der klassischen Nahversorgung und des täglichen Bedarfs, eben um zu feiern – in den meisten Fällen sei dies Alkohol, Tabak und jüngst auch Lachgas. Seit Jahren versammeln sich Nachtschwärmer in der „Grünen Oase“ in Regensburg. Seitdem unmittelbar vor dem Parklet ein Automatenkiosk eröffnet hat, weiten sich laut Altstadtkümmerer Bergmann die Aktivitäten aus. So sei inzwischen von Donnerstag bis Sonntag eigentlich „Remmidemmi“. Der entstehende Lärm und Müll laste auf die unmittelbare Nachbarschaft, unabhängig von Alter oder Sozialstruktur. Diese sähe die Kioske „skeptisch bis sehr skeptisch und ablehnend“, so Bergmann. „Wir haben zunehmend Nutzungskonflikte im Umfeld dieser Automatenläden und das sehen wir durchaus auch mit Sorge.“ 

Schandflecken im Zentrum? Die Stadt Fürth sieht Automatenkioske kritisch – und will keine neuen mehr zulassen. 

Bayerische Städte ergreifen erste Maßnahmen 

Andere Städte haben bereits erste Maßnahmen gegen die Automatenkioske beschlossen. Die Stadt Fürth etwa hat einstimmig beschlossen, den Bebauungsplan zu ändern, um weitere Automatenläden zu verhindern. Gegenüber NN.de hatte der Fürther Wirtschaftsreferent Horst Müller erklärt, dass die Ästhetik der Innenstadt unter dem Modell leiden würde. Zudem befürchte man, dass Nachtschwärmer zu später Stunde die Nachtruhe stören könnten. 

In Augsburg hat die Stadt mittels Ladenschlussgesetz erwirken können, dass in den Automatenläden ab 20 Uhr Schluss ist. Die Maßnahmen der Kolleginnen und Kollegen seien aber entweder zu aufwändig oder befänden sich in einem Graubereich, so die Stadt Regensburg. Als Verwaltung könne man aktuell nur an die Vermieter appellieren und erinnern, welche Folgen ein Automatenkiosk auf die Nachbarschaft hat. „Ein Automatenladen ist eigentlich eher negativ zu bewerten“, sagt Bergmann. Es gebe keinen Kopplungseffekt und auch die Ausstrahlung sei negativ. Die Stadt Regensburg wartet nun ab, wie das novellierte bayerische Ladenschlussgesetz die Automatenläden behandelt. 

Automaten-Kultur: So klingt unsere Recherche

Zu hören: Minh Anh Nguyen. Stephan Bergmann, Altstadtkümmerer der Stadt Regensburg. Prof. Dr. phil. Kerstin Cuhls, Fraunhofer Institut für System- und Innovationsforschung. Shinya Nakayama, japanischer Austauschstudent an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Kiosk-Franchise: „Die Leute sind eh unterwegs“ 

Neu ist das Konzept des Automaten keineswegs – auch nicht in Deutschland. Hierzulande kommen 135 Menschen auf einen Automaten, wie der Bundesverband der Deutschen Vending-Automatenwirtschaft (BDV) berichtet. Laut dem Verband wurden 2024 rund 4,387 Milliarden Produkte verkauft. Das sind durchschnittlich 12 Millionen Verkäufe pro Tag. Seit der Corona-Pandemie verbreiten sich aber vorwiegend Kioske, alleinig bestehend aus Automaten. Die regionale Kette 24Sieben-Shop führt in Nordbayern bereits 14 solcher Kioske und wurde 2021 vom Geschäftsführer Timo Haardörfer gegründet. „Ich glaube, dass das das Einkaufen der Zukunft wird“, erklärt der 28-Jährige im Gespräch. Zwar seien die Kioske aktuell im Hype und dieser könnte durchaus abflachen – der Geschäftsführer glaubt aber, dass das Modell langfristig Einzelautomaten ablösen könne. 

Die Sorge der Gemeinden und Anwohner teilt Haardörfer nicht: „Die Leute sind eh unterwegs, laufen von der Disco nach Hause und bei uns nehmen sie einfach nur noch was mit.“ Das Problem, wie der Lärm oder der Müll, existiere demnach auch außerhalb der Automatenkioske und sei nicht neu. Allein die Betreiber deswegen zur Verantwortung ziehen zu wollen, findet der Geschäftsführer „nicht so richtig“. Es sei schon so, dass sich viele Menschen vor Ort versammeln und auch, dass die Hauptzielgruppe Jugendliche wie junge Erwachsene seien, die am Wochenende weggehen – das gleiche treffe aber ebenso auf Diskotheken zu, argumentiert der 28-Jährige. 

Wegen des restriktiven Ladenschlussgesetzes lohne sich das Geschäft besonders in Bayern. Mit dieser Idee hat Haardörfer seine Firma auch ins Leben gerufen, wie er erzählt. Der Geschäftsführer erklärt, dass er seinen Kundinnen und Kunden ein anderes Einkaufserlebnis bieten wolle. Während es in Berlin oder Nordrhein-Westfalen überall Spätis gebe, würden Nachtschwärmer in Bayern leer ausgehen. „Da habe ich mir gedacht, wie kann ich das in Bayern lösen?“, erzählt er. Nach eigenen Angaben läuft das Geschäft gut. Der 28-Jährige hofft indessen, dass kritische Stimmen die Vorteile im Konzept sehen. In Deutschland sollte man seiner Meinung nach nämlich mehr mit der Zeit gehen. Ganz andere Ecken der Welt haben die Automaten fest in ihren Alltag mit eingebaut. 

In Nürnberg betreibt die Kette 24Sieben-Shop nach eigenen Angaben sechs Kioske – hier ist der am Josephsplatz zu sehen.

Automatenkultur in Japan: zwischen Alltagshilfe und Kulturgut

Japan ist weltweit für seine außergewöhnliche und vielfältige Automatenkultur bekannt. Mit knapp vier Millionen Stück sind sie in dem ostasiatischen Land allgegenwärtig und fest in den Alltag der Bevölkerung integriert. Doch was macht die Automaten dort so besonders? 

Shinya, Austauschstudent an der Ludwig-Maximilians-Universität München, erklärt, dass es in Japan mehr Automaten als Kioske gebe. Sie seien praktisch und würden alltägliche Bedürfnisse erfüllen, besonders unterwegs, wenn man schnell etwas kaufen wolle, wie etwa Getränke oder Snacks. Die Automaten seien nicht nur überall zu finden, sondern auch äußerst vielfältig: Neben denen für kalte und warme Getränke gebe es ebenso welche für beispielsweise Instant-Nudeln, Regenschirme oder Sammelkarten. Ein wachsendes Phänomen seien sogenannte Mystery-Automaten, bei denen Nutzer gegen einen festen Betrag Überraschungsprodukte erhalten. Diese Art von Automaten erfreue sich vor allem bei jüngeren Menschen großer Beliebtheit, die den Nervenkitzel und die Überraschung schätzten. 

Praktisch, aber nicht unentbehrlich

Shinya betont, Automaten würden vor allem dazu dienen, spontane Bedürfnisse zu befriedigen. Wenn er unterwegs sei und Durst bekomme, seien sie eine praktische Hilfe. „Für größere Einkäufe gehe ich jedoch lieber in den Supermarkt, da die Produkte dort oft günstiger und frischer sind“, sagt er. Automaten erfüllen in Japan demnach vor allem eine ergänzende Rolle: Sie machen den Alltag komfortabler, können jedoch etablierte Einzelhandelsstrukturen nicht vollständig ersetzen. 

Mehrere Millionen Automaten mit verschiedensten Produkten prägen das Erscheinungsbild Japans. 

Warum Automaten in Japan so beliebt sind

Ende 2023 sind in Japan rund 3,9 Millionen Verkaufsautomaten betrieben worden. Auf je 31 Einwohner kommt statistisch gesehen einer. Besonders weit verbreitet seien mit rund 2,2 Millionen Stück Getränkeautomaten, berichtet das Anshin-Life-Magazin. Ein wichtiger Grund für den Erfolg der Automaten liegt in der allgemein hohen Sicherheit im öffentlichen Raum. Sie können nahezu überall aufgestellt werden, selbst in abgelegenen Gegenden oder in urbanen Zentren. In einem Land mit sehr niedriger Kriminalitätsrate müsse man sich keine Sorgen um Vandalismus machen, erläutert Shinya. 

Darüber hinaus spiegelt die Automatenkultur den japanischen Lebensstil wider – eine Gesellschaft, die großen Wert auf Komfort und Verfügbarkeit legt. Die Beliebtheit der Automaten hängt daher auch mit ihrer praktischen Anwendung zusammen. Sie ermöglichen es den Menschen, spontan und schnell auf ihre Bedürfnisse zu reagieren. 

Auch Dr. Holger Wöhlbier, Akademischer Oberrat am Japan-Zentrum der Ludwig-Maximilians-Universität München, unterstreicht den Pragmatismus der Japanerinnen und Japaner. Er habe das Land der aufgehenden Sonne als eines wahrgenommen, welches durch viele Annehmlichkeiten versuche, den Alltag seiner Bewohnerinnen und Bewohner zu erleichtern. Die Automaten sollen den Alltag ergänzend bereichern, seien aber nur ein Teil der „Alltagsorganisationshilfsmaschinen“, erklärt Wöhlbier im Gespräch mit der Redaktion. 

Getränke wie Softdrinks oder Wasser: Solche Automaten überwiegen in dem ostasiatischen Land. 

Ein kulturelles Phänomen

Shinya sieht Automaten als einen unverzichtbaren Bestandteil der japanischen Identität. In historischen Städten wie Kyoto sind sie oft so gestaltet, dass sie sich der Umgebung anpassen und dabei nicht aufdringlich wirken. „Ein Japan ohne Automaten ist kein Japan“, findet er. Sie seien längst weit mehr als nur funktionale Objekte. 

Doch wie kam es dazu, dass Automaten in Japan eine solche Bedeutung erlangt haben? Prof. Dr. Kerstin Cuhls vom Fraunhofer-Institut sieht die Wurzeln dieser Akzeptanz nicht nur in der heutigen Praktikabilität, sondern auch in der Geschichte des Landes. 

Laut dem Japanischen Kulturinstitut erreichten die mechanischen Puppen ihren Höhepunkt in der Edo-Zeit (1603 bis 1868). Foto: Donostia/San Sebastian 2016 

Sie verweist auf die sogenannten Karakuri-Puppen, mechanische Figuren, die bereits vor Jahrhunderten in Japan entwickelt wurden. Diese kunstvollen Figuren, die oft Tee servierten oder kleine Theaterstücke aufführten, dienten nicht nur der Unterhaltung, sondern zeigten auch die technologische Fähigkeit ihrer Zeit. Die Karakuri seien mehr als nur Spielerei – sie symbolisierten eine frühe Begeisterung für Technik und Mechanik, die sich bis heute in der Kultur Japans zeige. Diese frühen Erfindungen hätten den Weg für die heutige breite Akzeptanz von Automaten geebnet, sagt Cuhls. 

Automaten als Lösung für den demografischen Wandel 

Heute sind Automaten in Japan weit mehr als kulturelle Symbole. Sie sind eine Antwort auf gesellschaftliche Herausforderungen wie den Fachkräftemangel und die alternde Bevölkerung. In einer Gesellschaft, die immer weniger Arbeitskräfte hat, können Automaten grundlegende Aufgaben übernehmen – sei es der Verkauf von Getränken oder die Funktion als Mini-Supermärkte. Besonders in ländlichen Regionen, wo es an Geschäften fehlt, bieten Automaten eine praktische Ergänzung zur Nahversorgung. Diese Entwicklung lässt sich auch in Deutschland beobachten, vor allem in Form von Milch- oder Eierautomaten auf dem Land. Cuhls betont, dass diese Automaten dazu beitrügen, die ländliche Infrastruktur zu stärken und den Zugang zu frischen Lebensmitteln zu erleichtern, besonders in Regionen, in denen die Selbstversorgung schwierig sei. 

In Japan selbstverständlich, von Deutschen kritisch beäugt: So sieht Cuhls den Umgang mit Automaten in beiden Kulturen. 

Japan: der unbefangene Umgang mit Technik 

In Japan gilt Cuhls zufolge ein pragmatischer Umgang mit neuen Technologien. Statt Innovationen zunächst kritisch zu hinterfragen, würden sie zuerst ausprobiert und bei Bedarf angepasst. „In Deutschland dominiert oft die Skepsis, während man in Japan zuerst die Funktion testet und Probleme dann aktiv löst“, erklärt sie. So sei es in Japan üblich, Mülleimer neben Getränkeautomaten zu platzieren, um den entstehenden Abfall sofort zu entsorgen – ein Ansatz, der auch gesellschaftlich unterstützt werde. 

Obwohl in Japan die Zahl der Automaten seit dem Jahr 2000 um mehr als 30 Prozent zurückgegangen ist, bleibt die relative Automatendichte pro Kopf hoch. Die dortige Automatenkultur zeigt, dass Technik weit mehr sein kann als nur eine praktische Lösung. Sie ist längst tief in den Alltag integriert und prägt auch das öffentliche Leben. Für Deutschland kann dies ein Anstoß sein, neue Wege im Umgang mit Automaten zu finden – sowohl in der Stadt als auch auf dem Land.